Wednesday, September 5

Neues vom ganz normalen Wahnsinn - mein therapeutischer Alltag

Klientin mit dem Gefühl, dass sie nichts wert, einsam ist und niemand sie mag, ihre Familie gratuliert ihr nicht mal zum Geburtstag, bevor sie etwas genießen will startet ihr Denken schon das Szenario danach, es wird ihr wieder schlecht gehen, deshalb kann sie beispielsweise nicht ins Kino gehen, sie wacht auf nach einer schlechten Nacht und fühlt sich schlecht, ihr Denken dreht sich bevor sie aufgestanden ist, wozu alles, es ist nutzlos, ich bin nutzlos, was hält mich am Leben?

Klient in einer absoluten mentalen und emotionalen Krise, absolviert gerade sein Abschlusspraktikum als Lehrer in einer Schule, kommt mit seiner Frau als Notfall und landet bei mir im Büro, sie weint, er ist verzweifelt, er kann nicht mehr, zu viel ist zu tun, die beiden Lehrer unterstützen ihn nicht, er kann nicht mehr schlafen und sein Denken stoppen, die Verantwortung seiner Frau gegenüber, was sagen die anderen, es gibt keine Lösung, der Gedanke an Selbstmord nimmt überhand und lässt den Verzweifelten Pillen schlucken, danach ist alles schlimmer als vorher, kein Ausweg in Sicht, nichts ist verhandelbar

Klientin mit einer schlimmen Schulterverletzung, gepeinigt vom Schmerz, schafft es nicht, an ihrer Doktorarbeit zu schreiben, sowieso ist alles zu schwer, sie hat schon so viele Beratungen hinter sich, nichts hilft, sie ist ein hoffnungsloser Fall, sie kann nicht schlafen, mag nicht mehr aufstehen, weiß gar nicht, ob es noch das richtige ist, was sie da tut, ihre Mutter nervt sie, obwohl sie nicht zusammen leben, sie schafft nichts, nicht mal das kleinste Ziel ist zu erreichen

Klient mit Trennungsschmerz von seiner Geliebten, ein halbes Jahr von ihr getrennt, doch weiter im Kontakt, sie spielen zusammen in einer Band, er ist immer noch ihr engster Vertrauter, sie erzählt ihm alles, in ihm lodert die Hoffnung, das sie wieder zusammen kommen, erfährt von ihr, dass sie wieder mit dem Freund vor ihm zusammen ist, eine Welt stürzt zusammen, warum nur, was kann ich tun, wie soll ich das aushalten, ich liebe sie, wie soll ich mich konzentrieren

Klientin asiatischer Herkunft, studiert Medizin, eigentlich ist sie schon ein Arzt, aber nicht in Australien ausgebildet, das ganze noch einmal bitte, was soll sie sich nur mit anderen unterhalten, vor allem wie macht man das, sie spricht außerordentlich gut Englisch, schließlich lebt sie schon sieben Jahre hier, doch immer mit dem Gefühl, dass andere nichts von ihr wissen wollen, sie kann in Gesprächen nicht mithalten, hat Sorge, das Falsche zu sagen und überhaupt wie das auf andere wirkt

Klientin, die es mag ihren Mund zu bewegen und unterschiedliche Geschmäcker zu genießen, kann nicht aufhören zu essen, kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, was sie als nächstes essen kann, kann nicht stoppen, was sie gerade ißt, denn sie muss es aufessen, bis es alle ist, sie schreibt fleißig ihren was, wann, wo und unter welchen Umständen Kalender sie essen muss, will, sie weiß nicht, was sie statt dessen tun soll, ist gelangweilt, hat keine Idee vom Leben, keine Wünsche, keine Träume.

Klientin, studiert Psychologie und absolviert gerade ein Praktikum in einer Klinik fuer Alkoholabhaengige, parallel dazu nimmt sie an Supervisionsgruppen teil, da haben sie und alle anderen Studenten die Moeglichkeit zu unterschiedlichen Themen ihr eigenes Leben bzw. Ausschnitte daraus zu reflektieren, sie ist ratlos, denn es faellt ihr nichts ein, was sie dort erzaehlen soll, ihre Kindheit war wie im Bilderbuch, sie hat keine Sorgen etc., sie befuerchtet, dass sie nicht im richtigen Bereich arbeitet, denn sie denkt private Erfahrungen sind erforderlich, jeder dort in der Gruppe traegt seine Geschichten vor, sie nicht, denn sie hat ja keine, sie denkt, dass sie arrogant auf die anderen wirkt und fuehlt sich ausgegrenzt, was soll sie tun, es stellt sich heraus, dass diese Supervisionsgruppe erst einmal statt gefunden hat und noch viele andere Themen kommen, zu denen sie etwas sagen koennte
Klientin, angehende Sozialarbeiterin, ist hier mit einem Studentenvisa, danach geht es zurueck nach Japan, sie will nicht, sie will hier bleiben, sie kann mit dieser Ausbildun gin Japan gar nicht anfangen, zu unterschiedlich alles, sie kommt nicht kalr mit den unterschiedlichen Wertesystemen, will etwas freier leben, das ist nur hier moeglich, sie ist ueber 40 jahre alt, hat noch nie ueber Gefuehle gesprochen, sie weiss nicht, wie man das macht, und welche es ueberhaupt gibt, sie dankbar fuer jeden Tip und hoert sehr aufmerksam zu, ihre Sprache ist nicht so gut, sie merkt es selbst und entdeckt eine Barriere mehr, es faellt ihr leichter zu schreiben, aber nciht so viel, dass sprechen ueber ... ist im groundlevel, das schreiben ueber igrendwo zwischen der nullten und ersten etage, wo bloss anfangen

Stories aus meinem Alltag. Behutsam strecke ich meine Fühler aus, wenn sie beginnen zu erzählen, ich höre zu, überlege Fragen, stelle Fragen, reiche ihnen eine imaginäre Hand, überlege, was zu tun ist, worum es wirklich geht, passe auf, nicht zu weit in die Vergangenheit zu gehen, will verstehen, aber nur soviel wie es nützlich ist, achte darauf, dass sie wieder gehen können, habe Sorge, ist es das richtige was ich da tue, muss ich sie/ihn nicht lieber in die Klinik bringen, checke also wie weit und wie konkret Suizidgedanken sind, setze therapeutische Mittel wie die Waage ein und lebe damit, dass Klienten dann nicht wieder kommen, zu hart die Konfrontation mit der Realität, die Waage habe ich wieder aus meinem Büro entfernt, es ist weniger Angst erweckend, ich mache Notizen und staple Ideen in meinem Kopf, vor allem aber höre ich zu, und einmal habe ich zurück bekommen, was ich nicht erwartet hätte, noch nie hat sich eine Klientin so verstanden gefühlt. Ich freue mich und bleibe gelassen, es ist so unterschiedlich, manchmal weiß ich schon, wenn ich die Klienten sehe, dass es gut funktionieren wird und manchmal denke ich schon sehnsuchtsvoll an das Ende einer Sitzung bevor diese ueberhaupt begonnen hat.

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