Thursday, August 20

Wir haben immer eine Wahl

Es regnet und regnet und regnet. Ich weiß nicht, wie viel Regen ich noch brauche, um endlich wieder einen Blog zu schreiben. Ich habe jetzt das Gefühl, dass das Maß voll ist. Nun denn, gebe ich mich meinen Erinnerungen und Gedanken ganz hin. Hier und jetzt treibt mich ebenso lange Weile, die ich nun nicht mehr aussitzen mag. Doch, wenn ich es mir richtig überlege und ein paar Gedanken daran vergebe, habe ich mir eigentlich genau das verdient. Zur Ruhe kommen, verarbeiten, was in den letzten Wochen passiert ist, was ich erlebt habe, wo ich war, was ich gedacht und gesehen habe und und und.

Ich fange am besten hier an und nicht Wochen zuvor. Da komme ich dann schon hin. Mich strahlen die Zeilen meiner Schwester an und ich merke, wie süchtig ich bin, von ihr zu lesen und zu hören wie es zu Hause so geht. Ich gewöhne mich langsam an den Gedanken, dass es sicher wieder etwas weniger mit den Emails wird, da allmählich vergangene Aufregungen ebben und positive Entwicklungen ihren Lauf nehmen. Gott sei dank. Ich fühle mich verbunden und bin froh, dass das nicht von Zeit und Ort abhängig ist. Ich fühle mich sicher, da ich weiß, worauf und auf wen ich mich verlassen kann.

Aus dem Nichts erreichen mich eines Montags morgen Zeilen aus Deutschland, die meinen kompletten Rhythmus aus der Bahn werfen und mich nicht zögern lassen, diese Flexibilität zu erlauben. Was muss passieren, um eine Entscheidung nach Deutschland zu fliegen, treffen zu können. Ereignisse, vor denen wir uns hier grausen und über die wir lieber nicht sprechen, da wir Angst haben sie herbei zu reden. Wie schlimm muss es unseren Lieben gehen, damit wir hier alles stehen und liegen lassen? Meine liebe Nichte musste vom Pferd fallen und sich ihren Lendenwirbel brechen. Ist das ein Grund, nach Hause zu fliegen? Für mich war es das! Und ich habe das auch gemacht. Eine Woche habe ich zwischen dem Unfall und dem Flug damit verbracht, mir diverse Szenarien im Kopf auszumalen, alles an Energie und Zuspruch über die Entfernung hinweg zu schicken. Thomas und ich haben das zuweilen zusammen gemacht. Eine unglaublich intensive Erfahrung.

Endlich zuhause angekommen, konnte ich Dich sehen. Tränen liefen über unseren Wangen als ich Dich gleich besuchen kam. Was war ich froh, gekommen zu sein und Dir Mut zu zu sprechen. Du warst darauf nicht angewiesen, denn Deine liebe Familie war um Dich. Tag und Nacht! Ich wollte Dir zeigen, wie wichtig Du bist und wichtig ich daran glaubte, dass mein Besuch Dir dies zeigen würde. Ich habe so viele Bilder in meinem Gedächtnis, so viele intensive Begegnungen, so viel Nähe, so viel Kraft wieder mit nach Perth genommen. Eine Freundin gab mir auf den Weg, all meine Gedanken und Gefühle aufzuschreiben, wenn ich bei Dir und bei Euch bin. So besorgte ich mir dieses kleine blaue Buch „HERE“ und begann schon in der ersten Nacht im Haus Deiner Eltern auf Englisch den ersten Eintrag zu tätigen. Einen Tag später sprechen wir über all das, was Du durchmachen musstest und musst im Krankenhaus und wie Du Dich wohl in 20 Jahren daran erinnern wirst. Ich hatte dieses kleine blaue Buch bei mir und habe nicht gezögert, es Dir zu geben, damit Du all das aufschreiben kannst. Es ist eine wunderbare interaktive Kommunikation daraus geworden. Deine Mutter und ich haben ebenfalls in dieses Buch geschrieben, wenn wir da waren, bei Dir saßen, auf Dich warteten, während Du Deine erste OP hattest und auch, wenn wir so unsere kleinen Späße getrieben haben. Es wird nun voll sein und setzt damit ein Zeichen des Besser Werdens, Deiner Genesung und des Nach vorne Blickens. Eine Woche konnte ich bei Dir sein und mir selbst dankbar, dass ich das getan habe. Ich habe viele traurige, aber auch wundervolle Momente erleben dürfen, während Du tapfer warst und daran geglaubt hast, dass alles wieder gut wird. Wir haben gnadenlos die Krankenstationen okkupiert und sicher so manche Schwester oder Arzt damit genervt. Wir habe einfach nur da gesessen, jeder in seinen eigenen Gedanken. Ich durfte erleben, wie Du, Deine Schwester, Deine Mutter und Dein Vater eine Nähe gelebt haben, die mich zu Tränen rührte. Ich war überwältigt von diesen Momenten und habe mich mit Thai Chi, dank Deiner Mutter, immer wieder erden können. Wir haben Chinapfanne zum Essen mitgebracht, da Du schon vom Hinsehen zum Krankenhaus essen satt warst. Wir haben manchmal auch gealbert, WER BIN ICH einmal gespielt und Horoskope geraten. Wir haben gelacht, geweint, gezittert und die Nerven bis zum Endlosen heraus gefordert. Wir haben Dir kurzen Shorts gekauft, da Du immer dünner wurdest und es warm war. Die Shorts waren immer noch zu groß. Wir haben gebangt, gehofft, gebetet und gedankt. Und Du? Ich habe eine Idee davon, was in Dir während all dem an Gedanken über die Nervenbahnen gerauscht sein muss. Ständig und immer wieder. Ich war und bin beeindruckt, wie Du dennoch all das gemeistert hast. Ich ziehe den Hut vor Dir.
Mittlerweile hast Du Deine zweite OP hinter Dir, bist die Schläuche los und wie ich höre, sogar befreit von den ersten Klammern. Du bist nun auf Reha und findest allmählich einen Rhythmus und Umgang mit dem, was passiert ist. Ich schicke Dir gute Gedanken und Kraft, den Mut nicht zu verlieren, die Muskeln aufzubauen und fit zu sein für die nächste Herausforderung im September. Unser Abschied war herzzerreißend und schmerzlich, zumal ich wusste, dass Dir noch eine OP und noch einmal Bangen und Angst bevor stehen. Es war schlimm zu gehen, aber gut zu wissen, wie Ihr alle beieinander wart. Im Oktober sehen wir uns wieder und Du bist wieder zu Kräften gekommen. Was ich mich darauf freue.

Einen Tag später, als mich Nachricht von Carolin’s Unfall erreicht, hat ein riesen Schutzengel über die kleine Enna gewacht. Ein Mopedfahrer verlor die Kontrolle und wirbelte dadurch die Kleine durch die Luft. Sie hatte schon ihren Fahrradhelm auf, der sicher das Instrument des Schutzengels war und sie somit heil wieder hat aufstehen lassen.

Was in kurzer Zeit alles passieren kann, ohne das wir ahnen, dass es passieren wird. Ich bin tief beeindruckt, wie wir dann in der Lage sind, solche Schicksalsschläge zu meistern und damit umgehen. Wer schreibt unseren Plan des Lebens?

In Perth zurück erwischten mich der Alltag, der Jetlag und der Winter kalt. Thomas war mein Lichtblick und Anker. Ohne seine Unterstützung wäre vieles anders gewesen. Ich bin froh, wenn auch der Anlass kein Freudiger war, die Erfahrung gemacht zu haben, nach Deutschland fliegen zu können, wenn es erforderlich ist. Es gibt mir ein wenig mehr Ruhe und Sicherheit zu wissen, dass alles machbar ist. Egal wo wir sind. Es ist immer eine Frage der Prioritäten und der Wahl. Daran glaube ich fest.

Es regnet immer noch und während ich diese Zeilen schrieb, rief meine Mutter an. Und ewig bleibt diese Verbindung, die wir nicht messen, aber spüren können.

Auf das Ihr alle gesund und achtsam bleibt.